Sonntag

Erdogan wirft Deutschland «Nazi-Praktiken» vor

Köln (dpa) - Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat Deutschland wegen der Absage von Wahlkampfauftritten türkischer Minister «Nazi-Praktiken» vorgeworfen.

«Eure Praktiken machen keinen Unterschied zu den Nazi-Praktiken in der Vergangenheit», sagte Erdogan nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu auf einer Veranstaltung der regierungsnahen Frauenorganisation «Kadem» in Istanbul. Weiter sagte er, Deutschland habe nichts mit Demokratie zu tun. Erdogan warb auf der Veranstaltung anlässlich des Weltfrauentags am 8. März für ein «Ja» beim Referendum über ein Präsidialsystem in der Türkei.

Der Streit über Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Deutschland geht in eine neue Runde. Trotz der heftigen Kritik an diesen Veranstaltungen will der türkische Wirtschaftsminister Nihat Zeybekci am Abend in einem Kölner Hotel auftreten.

Es geht um eine Wahlkampfveranstaltung und für das von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan angestrebte Präsidialsystem in der Türkei. Das geht aus dem Kalender des Koordinationszentrums für die Auslandswähler der türkischen Regierungspartei AKP hervor. Schon am Nachmittag will Zeybekci zudem in Leverkusen ein Grußwort bei einem Konzert sprechen.

«Wir werden uns darauf vorbereiten», sagte ein Polizeisprecher mit Blick auf den erwarteten Auftritt des Erdogan-Gefolgsmannes in Köln. Zuvor waren zwei mit Zeybekci geplante Veranstaltungen in Köln-Porz und Frechen abgesagt worden, auch in anderen deutschen Städten hatten türkische Politiker eine Abfuhr kassiert.

Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu kommt an diesem Dienstag nach Hamburg. Das bestätigte die Polizei. Weitere Details nannte die Polizei nicht. Es werde nun eine Lagebeurteilung vorgenommen. Cavusoglu will sich in den kommenden Tagen auch mit seinem deutschen Amtskollegen Sigmar Gabriel (SPD) treffen, um den Streit zwischen Berlin und Ankara um die Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Deutschland zu entschärfen.

Die Absagen führten zu großen Spannungen zwischen der Türkei und Deutschland. Erdogan forderte, die Verantwortlichen müssten wegen «Beihilfe zum Terror vor Gericht kommen». Justizminister Bekir Bozdag sprach von Menschenrechtsverletzungen und «faschistischen» Methoden deutscher Behörden. Deutsche Politiker nannten die Angriffe «völlig überzogen» und «abwegig».

Außenminister Sigmar Gabriel, der sich in der kommenden Woche mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu treffen will, warnte vor einer weiteren Eskalation. «Wir dürfen das Fundament der Freundschaft zwischen unseren Ländern nicht kaputt machen lassen», schrieb der SPD-Vorsitzende in einem Gastbeitrag für die «Bild am Sonntag». Das deutsche Verhältnis mit der Türkei sei in diesen Tagen einer schweren Belastungsprobe ausgesetzt. «Wir sind gut beraten, die schwierigen Themen, die zwischen uns stehen, nicht gegeneinander aufzurechnen, schrieb Gabriel weiter.

Der CSU-Innenpolitiker Stephan Mayer verlangte, Kundgebungen türkischer Politiker in Deutschland für die Verfassungsreform zu verbieten. «Ich bin der festen Überzeugung, dass wir es nicht tolerieren dürfen, dass die schwerwiegenden innertürkischen Konflikte nach Deutschland exportiert werden», sagte er der «Welt am Sonntag».

Die Grünen-Politikerin Claudia Roth warnte jedoch, politisch motivierte Verbote solcher Veranstaltungen könnten kontraproduktiv sein. «Denn wir machen den Unterschied zwischen uns und einer Autokratie auf dem Weg in die Diktatur doch am besten deutlich, wenn wir zeigen, dass Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und selbstverständlich auch die Pressefreiheit für alle gleichermaßen gelten», sagte sie der Zeitung. «Es ist eben keine Schwäche sondern ganz im Gegenteil ein Zeichen der großen Stärke unseres Rechtsstaates, dass er auch unliebsame Auftritte, Meinungen und Botschaften aushält.»

Nach einer Emnid-Umfrage im Auftrag der «Bild am Sonntag» sind 81 Prozent der Bürger der Auffassung, dass sich die Bundesregierung zu viel von der türkischen Regierung gefallen lasse. Nur 13 Prozent waren anderer Meinung. Zudem plädierten 47 Prozent der Befragten dafür, dass die EU das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei aufkündigt.

Der österreichische Bundeskanzler Christian Kern sprach sich für ein EU-weites Verbot von Wahlkampfauftritten türkischer Politiker aus. «Eine gemeinsame Vorgehensweise der EU, um solche Wahlkampfauftritte zu verhindern, wäre sinnvoll», sagte Kern der «Welt am Sonntag». Damit könnte verhindert werden, dass einzelne Länder wie Deutschland, in denen solche Auftritte untersagt würden, unter Druck der Türkei gerieten, fügte der Sozialdemokrat hinzu.

Wirtschaftsminister Zeybekci - Wahlkämpfer für Erdogan

Ist die deutsch-türkische Partnerschaft noch zu retten?

Wann sind türkische Politiker in Deutschland aufgetreten?

Die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei werden immer schwieriger. Gegenseitige Vorwürfe und Kritik bestimmen aktuell das Verhältnis. Ein Rückblick:

20. März 2015: Das EU-Flüchtlingsabkommen mit der Türkei tritt in Kraft. Unter anderem hat sich Kanzlerin Angela Merkel (CDU) dafür eingesetzt, um die Zahl der Migranten nach Deutschland zu reduzieren.

17. März 2016: Die NDR-Satire-Sendung «extra 3» macht sich in einem Lied über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan lustig.

31. März: Der Satiriker und Moderator Jan Böhmermann trägt eine umstrittene «Schmähkritik» an Erdogan vor. Der Staatschef geht juristisch in Deutschland dagegen vor.

2. Juni: Der Bundestag beschließt eine Resolution, die die Gräuel an den Armeniern im Osmanischen Reich vor 100 Jahren als «Völkermord» einstuft. Darauf zieht Ankara seinen Botschafter für vier Monate ab.

22. Juni: Ankara untersagt deutschen Parlamentariern einen Besuch auf der Luftwaffenbasis Incirlik. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) reist daraufhin demonstrativ zu den Bundeswehr-Soldaten.

15. Juli: Ein Putschversuch von Teilen des Militärs in der Türkei scheitert. Erdogan macht Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen verantwortlich. Seitdem gilt in dem Land der Ausnahmezustand. Der Präsident befürwortet die Wiedereinführung der Todesstrafe.

2. September: Kanzlerin Merkel erklärt die Armenien-Resolution des Bundestags für rechtlich nicht bindend. Kurz darauf gibt Ankara grünes Licht für die Reise von Bundestagsabgeordneten nach Incirlik.

2. November: Nach neuerlichen Verhaftungen von Journalisten in der Türkei droht Merkel indirekt mit Auswirkungen auf Ankaras EU-Beitrittsverhandlungen. Daraufhin wirft Erdogan Deutschland vor, Anhänger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, der linksterroristischen DHKP-C und der Gülen-Bewegung zu unterstützen.

1. Dezember: Die türkische Parlamentspräsidentin Aysenur Bahcekapili wird zeitweise am Flughafen Köln-Bonn festgehalten. Aus den vorläufigen Papieren sei kein Diplomatenstatus erkennbar. Daraufhin erschwert Ankara deutschen Diplomaten die Ein- und Ausreise.

29. Januar 2017: Medien berichten, dass etwa 40 in Nato-Einrichtungen stationierte türkische Soldaten Asyl in Deutschland beantragt haben. Ankara droht bei einer Annahme mit «sehr ernsten Folgen».

15. Februar: Ermittler durchsuchen Räume der Türkisch-Islamischen Anstalt für Religion (Ditib). Imame haben Gülen-Anhänger in Deutschland bespitzelt und Informationen nach Ankara geschickt.

17. Februar: Der «Welt»-Korrespondent Deniz Yücel kommt in Istanbuler Polizeigewahrsam. Ihm werden unter anderem Mitgliedschaft in einer Terrororganisation und Terrorpropaganda vorgeworfen. 13 Tage später kommt er in Untersuchungshaft, die bis zu fünf Jahre dauern kann.

19. Februar: Bei einem umstrittenen Auftritt wirbt Ministerpräsident Binali Yildirim vor türkischen Landsleuten in Oberhausen für Erdogans Verfassungsreform, über die in einem Referendum abgestimmt wird.

2. März: Aus Sicherheitsgründen verweigert die Stadt Gaggenau dem türkischen Justizminister Bekir Bozdag einen Wahlkampfauftritt. Zudem lehnt die Stadt Köln eine Anfrage für einen Auftritt von Wirtschaftsminister Nihat Zeybekci im Bezirksrathaus Köln-Porz ab.